Neonschild aus Rotlicht, ein Pferdekopf auf dem Regal, eingestaubte Werke hochgelobter Dichter, eine Statue der Antike und ein Teppich, der direkt aus Omas Garderobe stammen könnte. Wer könnte in so einem Wohnzimmer hausen, das allerlei Antiquitäten aus der Vergangenheit beherbergt?
In ihrem Stück »Die Guten« lässt Rebekka Kricheldorf ihr Publikum mit den vier Kardinaltugenden Bekanntschaft machen, die schon vor Jahrtausenden von den bekannten antiken Intelligenzen etabliert wurden. Seit den 2000 Jahren ihrer Existenz prüfen Fortitudo (Tapferkeit), Justitia (Gerechtigkeit), Temperantia (Mäßigung) und Prudentia (Klugheit) also gemeinsam den Status Quo der Gesellschaft und das Verhalten der Menschen. Und tatsächlich, dieses Jahr scheint sich tatsächlich eine Verbesserung abzuzeichnen: Die Menschen versuchen wahrhaftig, sich positiv und umsichtig zu verhalten. Nach Jahrhunderten der Habgier, Missgunst und Gewaltbereitschaft legen diese nun Wert auf Empathie, Nächstenliebe und ökologisches Bewusstsein. Doch ist dieses Auftreten aufrichtig?
Obwohl die Bilanz zunächst verheißungsvoll erscheint, stellt diese sich als Trugbild heraus. Weiterhin sind die Menschen trügerisch, verlogen und eingenommen von Selbstbezogenheit. Die Solidarität: reine Heuchelei. Was also tun? Schließlich steht die Prophezeiung der Psychomachia bevor, das finale Gefecht zwischen Tugenden und Sünden! Doch ist es wirklich so einfach? Unterschätzen wir nicht durch die Lobpreisung von Tugenden und die Ablehnung von Lastern unsere eigene Komplexität? Obwohl die Dialoge von humorvollen Vulgaritäten und Obszönitäten dominiert werden, etablieren Regie und Dramaturgie, ersteres geleitet von Meera Theunert sowie letzteres von Sonja Bachmann, eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der anthropologischen Philosophie, die sogar die Lehren legendärer Dichter des Griechisch-Lateinischen wie Platon und Cicero anzweifelt und verpönt.
Kann ein Mensch also gut sein? Dieser Frage widmen sich die vier Kardinaltugenden in einer hitzigen Debatte. Und wie soll das überhaupt gehen, wenn selbst die Tugenden nicht tugendhaft sind? Die Verkörperung eben jener unvollkommenen, allen Exzessivitäten verfallenen Tugenden, die nachts mit den Lastern Völlerei und Wollust in Clubs tanzen gehen und selbst nicht von diversen charakterlichen Abgründen befreit sind, gelingt den Schauspielerinnen Marie Seiser, Judith Strößenreuter, Andrea Strube und Charlotte Wollrad dabei von Anfang bis Ende. Ob groteske Satire, emotionaler Ausbruch, oder doch die reißerische Inszenierung eines Kriegs-Szenarios, die Schauspielerinnen präsentieren ein dramatisches Spektakel, das selbst die derbsten Skurilitäten des Mensch-Seins hervorbringt.
Wie also ist nun jene Frage zu beantworten, wenn selbst die klügsten Dichter in Wahrheit verdorben sind? Darauf geben die Tugenden in ihrer Conclusio keine Antwort. Darf man überhaupt den Menschen für das Mensch-Sein kritisieren? Vielleicht sind wir auch einfach immer alles zugleich und vereinen Concordia und Disconcordia, Avaritia und Bamherzigkeit. In Form eines Zeigefinger-Handschuhs in Lebensgröße übt das Stück trotz philosphischer Differenziertheit gezielte Kritik. Die Arroganz des Menschen und der Hang zum Gutmenschtum. Die Bereitschaft zur Verurteilung anderer, die einzig der eigenen Selbstbeweihräucherung dient. Wenn die ganze Bemühung um das Gute also nur reine Maskerade ist statt ehrlicher Erkenntnis, welche Existenzberechtigung haben die Tugenden überhaupt? Eine Antwort auf die Frage haben diese zwar nicht, trotzdem ziehen diese am Ende gegen die Sünden in den Krieg. Vielleicht kommt es zuletzt also gar nicht darauf an, wahrhaftig gut zu sein. Dem Stück zufolge, sollte die Lehre nämlich eine andere sein: Seid stets bemüht!