»Keller« lautet schlicht und ergreifend der Titel des Stücks, das die Bühne Cipolla aus Bremen in Anlehnung an Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (veröffentlicht1864) inszeniert hat. Die Theaterschaffenden nahmen sich damit einen literarisch und philosophisch anspruchsvollen, schwierigen Stoff vor und verwandelten ihn in sprachgewaltige und eindrucksvolle, zum Teil erschreckende Bilder. Das virtuose Spiel von Sebastian Kautz, unterstützt durch die variationsreiche musikalische Gestaltung von Gero John, haben die Zuschauer:innen am Samstagabend im ausverkauften Musa Saal mit Begeisterung verfolgt.
In der Dunkelheit bewegen sich fast unbemerkt Hände, äußerst langsam und behutsam, tastend, tanzend, Finger strecken sich. Im blauen Licht erscheint zuerst ein silbern glitzernder Damenschuh, das schlanke Bein des Spielers, der geschmeidig die Podest-Elemente erklimmt, hinauf zu einem eiförmigen Objekt. Zwei Scherenschnitte setzt der Spieler an und aus dem Ei schält sich, nackt und kahlköpfig eine Monstrosität.
Das Kind, welches hier geboren wird, trägt die Züge eines wilden, boshaften, ungnädigen Erwachsenen, reißt sich los von seiner Nabelschnur, beißt sie durch, löst die Bindung. Tot die Eltern, deren Totenmasken den Protagonisten kaum zu rühren vermögen, er weist sie von sich, wie alle anderen Menschen, denen er sich immer zugleich unter- und überlegen fühlt.
Es erscheint so eine äußerst abstoßende ambivalente Gestalt, die, was sie sich
sehnlich wünscht, stets zurückweist und zerstört, zermartert und zermürbt von tiefem Selbstzweifel, unfähig anderen Menschen in die Augen zu sehen, zugleich von scharfem Verstand, der sich über die unwissende Oberflächlichkeit aller anderen Menschen erhebt.
Das Stück führt nun durch verschiedene Lebensphasen und –situationen dieses sozial inkompatiblen Mannes. Da erscheint er mit Mütze, Schultüte und Lätzchencape als Schulkind, dessen einziger Freund (versinnbildlicht durch einen flugs aufgeblasenen Luftballon mit skizzenhaft hingeworfenem Gesicht) durch seine innige Zugewandtheit das Interesse des Protagonisten an ihm erstickt. Der martialisch irr blickende Kopf der Hauptfigur, mit hervorquellenden Augen und schütterem speckigem Haar, gezeichnet von vielen Falten ist nun der eigentliche Spieler, deren Körper zugleich verschiedene Metamorphosen durchlebt. Als Beamter mit einem zu äußerster Fettleibigkeit aufgeblasenen Anzug, stempelt er mit größter Entschlossenheit- sinnentleerte Aktivität.
Sowohl sein 40. Geburtstag als auch eine Erbschaft veranlassen ihn den Dienst zu quittieren und sich in ein Kellerloch zurückzuziehen, wo er sich, zurückgeworfen auf sich selbst, in totaler Isolation immer mehr in wahnhafte gedankliche Zwänge verstrickt.
Angewidert von den Menschen und selbst widerlich, tritt er in eine einseitige obsessive Konkurrenz mit einem Offizier, dem er bei Begegnung im öffentlichen Raum nicht mehr Ausweichen will, wie er es stets zu tun pflegt. Sein Triumph mit dem Offizier schließlich an der Schulter zusammenzustoßen. Durch eine Operation verwandelt er sich in eine unansehnliche Kellermaus, die keiner sieht, unbeachtet, der eigenen zwanghaften Betriebsamkeit ausgeliefert. Alle Ausflüge aus dem Kellerloch geraten zu äußerst entmutigenden, fast erniedrigenden Erlebnissen. Alte Schulfreunde verhöhnen und ignorieren ihn bei einem gemeinsamen Abendessen. Im Bordell schließlich begegnet er einer Prostituierten, für die er fast zarte Gefühle entwickelt. Dennoch mündet das Gespräch in schlammigen Bildern des Todes und der Einsamkeit. Der Tausch der Köpfe der beiden Figuren macht ihn zum Objekt der eigenen Begierde.
Bemerkenswert an dieser Vorstellung ist die Kühnheit des Spiels mit dem monströsen Kopf, der permanent Körper und Gestalt wechselt und mit dem Spieler in Dialog tritt, diesen beschimpft, ihn despotisch zum Erfüllungsgehilfen seines Willens degradiert und sogar von ihm verlangt zu verschwinden. Die Schulfreunde, die aufgereiht auf einem mit einer Hand jonglierten langen Brett in Bierkrügen auftauchen, werden schließlich auf Gabeln als Haltegriffe aufgespießt bewegt. Der Spieler, Sebastian Kautz leiht der Figur hinter der er sich verbirgt seine unterschiedlich beschuhte Beine. Das Rasen und Toben des Galle spuckenden Verstandesmenschen überzeugt ebenso wie das Versinken der Figur in resignativer Selbstanklage. Ihr Dasein als Zwerg, Maus und sozialphobischem Wüterich überrascht und verstört zugleich. Die unterschiedlichen Kostümierungen sowohl der Figur als auch der Spieler verleiht den Charakteren etwas genderfluides, ein changieren zwischen weiblichen und männlicher Gewandung und Wesensaspekten.
Bemerkenswert auch die musikalische Begleitung und Untermalung des Geschehens.
Zum einen umrahmt die Musik des zentral auf der Bühne platzierten Cellisten stimmungsvoll und variationsreich das Geschehen. Darüber hinaus erzeugt Gero John jedoch auch das Quietschen des Luftballons, tippt in der Büroszene auf einer Schreibmaschine, klappert im Restaurant mit Löffeln und verleiht der Szenerie manchmal mit dem Keyboard einen düsteren Grundton, lässt eine Kinderspieluhr anklingen und fungiert so auch als Soundchoreograf. Abgerundet wird das Setting durch das intensive blaue Kellerlicht, das grelle Rot der Wut und Leidenschaft, einer einzelnen im Kellerloch baumelnden Glühlampe.
Alle diese Elemente verweben sich zu einem Gesamtkunstwerk, das durch seine Kühnheit und künstlerische vielgestaltige Freiheit besticht. Wenngleich es durch die grotesken Züge des Protagonisten, seine verachtunsvolle Überheblichkeit und seinem zerquälenden Inferioritätskomplexen doch schwer verdaulich ist.
Das Publikum ist nichtsdestotrotz begeistert von dieser außergewöhnlichen Vorstellung, was der langanhaltende Applaus beweist.