Das Literarische Zentrum lud am Dienstagabend, dem 21. Februar 2024, im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Souvenir« ins Literaturhaus in die Nikolaistraße ein. Thema dieser Lesung und des Gesprächs war der Roman »Verpuppt« wie auch das Leben der jungen slowenischen Autorin Ana Marwan.
Aus der Idee der »Souvenir«-Veranstaltungsreihe wuchs ein interessantes Programm des Netzwerks der Literaturhäuser in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Ins Leben gerufen wurde diese Reihe im Oktober 2022 auf Initiative des Literaturhauses Stuttgart. Sie bietet einen Einblick in das Schaffen von Autor:innen aus Mittel- und Osteuropa, die in Literaturhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Bühne finden. Das Highlight der Abende ist nicht nur das Gespräch über das Leben, den Schaffensprozess und das Reinhören in die Werke selbst, sondern die „materielle Erinnerung“, die die Autor:innen zu den Abenden mitbringen. Es sind Gegenstände, die eine besondere Erinnerung in sich tragen und so eine besondere Bedeutung im Leben der Autor:innen einnehmen.
Dementsprechend war das Interesse des Publikums an dem Inhalt der grün-pinken Schachtel, mit der Ana Marwan um 20 Uhr nach vorne kam, sehr groß. Es musste sich jedoch etwas geduldet werden, da Elke Schmitter, die diesen Abend das Gespräch leitete, es geschickt nutzte, um wie beim Lesen und Schreiben selbst diese Schachtel mit in die Spannung mit einzubeziehen. Und von Lesen und Schreiben versteht Elke Schmitter eine ganze Menge. Die deutsche Journalistin, Literaturkritikerin und Schriftstellerin schaffte es an diesem Abend ein humorvolles, tiefsinniges und spannendes Gespräch, um die drei Leseproben herum aufzubauen, welchem alle Zuhörer:innen aufmerksam folgten.
Rita, die Protagonistin des Romans, lebt in ihrer Welt gefüllt mit Träumen sowie verlorenen und wiedergewonnen Dingen und findet sich darin oft schwer zurecht. Das Gefühl kennt die Autorin Ana Marwan sehr gut selbst, wie sie es in der Lesung und dem Gespräch anklingen ließ. Die junge slowenische Autorin publiziert sowohl in deutscher wie auch in slowenischer Sprache. Studiert hat sie Vergleichende Literaturwissenschaft in Ljubljana – ihrer Heimatstadt – und daraufhin Romanistik in Wien. In Österreich lebt sie auch heute noch und schreibt dort Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Zusätzlich ist sie die Herausgeberin der Zeitschrift Literatur und Kritik. Ihr hochgelobter Debütroman Der Kreis des Weberknechts erschien im Otto Müller Verlag im Jahr 2019, gefolgt vom durch den Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichneten Text Wechselkröte. An diesem Abend drehte sich jedoch alles um ihr neusten Roman Verpuppt, der 2023 erschienen ist. In diesem Roman widmet sich die Autorin der Frage nach dem Schein und Sein sowie dem Drahtseilakt zwischen Wahrheit und Lüge. Es ist ein Roman, der gefühlt und erfahren werden will, statt nur gelesen. Er ist verwirrend und beruhigend, voller Ironie und Ernsthaftigkeit und bestückt mit einer bemerkenswerten Sprachfertigkeit. Kern des Romans ist die Phase des Erwachsenwerdens - des „Ich-Werdens“.
Die Protagonistin befindet sich in der Schwebe. Leser:innen wissen lange nicht so recht, was es mit ihr auf sich hat. Arbeitet sie im Ministerium für Raumfahrt? Oder ist sie doch Patientin oder Inhaftierte in einer Anstalt? Rita ist eher eine Beobachterin als eine Person, die sich gern ins Rampenlicht rückt. Sie widmet sich nicht gern den Menschen, sondern eher ihrer Welt im „Inneren“. Sie schreibt Geschichten auf, spielt mit der Sprache und so auch mit den Grenzen der Realität, die sie durch ihr Schreiben scheinbar für sie selbst aufzuheben vermag. Ihre Fantasie scheint grenzenlos. Ganz im Gegenteil zu den Möglichkeiten, die Ritas Mutter noch sieht, diese unter Kontrolle zu halten. Rita wird deshalb in eine psychiatrische Klinik eingewiesen – oder doch nicht? Wenn ja, stört es sie überhaupt? Denn sie scheint es zu genießen, nicht rausgehen zu müssen, wenn sie sagt:“Solange mich andere einsperren, bin ich frei“. Wer ist dieser Herr Jež., über den sie so viel schreibt. Sie lernt den etwa 30 Jahre älteren Herrn in der Psychiatrie kennen und meint, einen Geistesverwandten gefunden zu haben. Gibt es ihn wirklich? Entspringt er vielleicht auch nur ihrer grenzenlosen Fantasie? Oder wird hier ein Verhältnis von einem älteren Mann und einem jungen Mädchen angedeutet? Und heißt Rita nicht eigentlich in Wirklichkeit Julia?
So verwirrend wie diese Fragen klingen mögen, ziehen sich diese durch das Buch und lassen die Leser:innen nicht mehr los. Man will erfahren, was nun wirlkich los ist. Ob es einem gelingt – sei an dieser Stelle offengelassen. Ritas Weg zum Erwachsenwerden ist geebnet durch unzählige Optionen. Ebenso wie die unzähligen Deutungsweisen, die sich beim Lesen eröffnen. Marwan weiß es geschickt den Moment einzufangen, an dem die lesenden Personen vielleicht aufgrund der Verworrenheit der Fäden kurz davor sind, das Buch wegzulegen. Durch Sprachwitz, neu entfachter Aufmerksamkeit mithilfe von Erwartungen, Leichtigkeit, Ironie und dem Spiel mit Sprache wird eben das verhindert. Und obwohl sie das Buch original in der slowenischen Sprache verfasst hat, geht selbst in der Übersetzung von Klaus Detlef Olof von dieser eindrucksvollen Sprachfertigkeit nichts verloren. So folgt man gespannt dem verworrenen Prozess des „Jemand-Werdens“ der so viele Möglichkeiten bereithält.
Unzählige Optionen eröffneten sich auch Ana Marwan, als sie von Slowenien nach Deutschland kam. Sie beschreibt, wie sie es „ausnutze“, eine Fremde zu sein. Nicht in einem negativ konnotieren Sinne, sondern eher chancenbehaftet. Im Gespräch beschreibt sie, sie hätte sich schon immer – auch in ihrer Heimat – irgendwie fremd gefühlt. Und wenn man dann wirklich in der Fremde ist, dann wäre es nichts Schlimmes oder Beunruhigendes mehr, sich fremd zu fühlen, da man es ja in dem Fall ist. So kam ihr der Satz „Das ist bei uns so“ insofern zugute, dass sie sich an verschiedenen Sachen ausprobierte. Sie beschreibt, wie sie am Anfang immer irgendwelche Hüte trug und Fragen danach mit „Ja das ist bei uns so“ entgegnete – ob es stimmte oder nicht. Sie beschreibt es anschaulich als „eigene Heimat in der Fremde erfinden“. Die Freiheiten hörten jedoch beim Kleidungsstil nicht auf, auch auf Deutsch zu schreiben, emfpand sie nicht hauptsächlich als Herausforderung, sondern als eine Erlösung. Sie konnte so ihre Selbstzäsur etwas abschütteln, da es Worte und Sätze waren, zu denen sie etwas mehr Distanz habe – die fremd waren. So bot es eher einen höheren Grad an Freiheit beim Schreiben als eine Eingrenzung.
Die humorvolle und lockere Art lassen das Gespräch der beiden sehr zugänglich und offen wirken. Es wird viel gelacht an diesem Abend. Viel Gesprächsraum wird auch dem Hund von Marvan gegeben, da sie durch ihn viel über die Bedeutung von Gesagtem und Gemeintem, von Erziehung und besonders aber der Rolle vom eben Nicht-Gesagtem und nicht Sagbaren verstanden habe. Wie Marwan die Rolle von Sprache und der inneliegenden Bedeutung dieser darstellt ist fesselnd, erfrischend und gleichzeitig sorgt es dafür, das eigene Verständnis davon zu hinterfragen. Dennoch sagt sie, sie schreibe lieber als zu sprechen, obwohl sie es eben durch ihre Sprache schaffte, die Zuhörer:innen gespannt dem Gespräch lauschen zu lassen. „Ich schreibe immer, weil ich 10 mal die Dinge lösche, bevor sie stehen. Beim Gesagten kann ich nichts mehr zurücknehmen“, verdeutlicht sie.
Der geheimnisvolle Inhalt der Schachtel wurde kurz vorm letzten Leseteil offenbart. Darin befand sich ein aus Rinde und Holzstücken gebasteltes Holzpferd. Die Geschichte dazu rührte Elke Schmitter wie auch das Publikum sichtlich. Bei einer Dachrenovierung ihres Hauses in Slowenien fanden die Bauarbeiter:innen dieses kleine Holzpferd im alten Dachstuhl. Doch statt es wegzuwerfen, stellten sie es bei Marwan auf den Gartentisch, als sie fertig waren. Rührend beschreibt sie, welchen Wert die Tatsache für sie hat, dass dieser Bauarbeiter es nicht für Müll hielt, sondern diesem kleinen Gegenstand eine Bedeutung zumaß und entschied es zu retten und auf den Tisch zu stellen. Doch am meisten binden Marwan ihre Vorstellungen emotional an den Gegenstand. Wer hat dieses Pferdchen mal gebaut? Wer hat damit gespielt? Wurde es mit Absicht dagelassen? Die Fragen, auf die sie nie eine Antwort finden wird, sind es, die sie so interessieren. Die unendlich vielen möglichen Vorstellungen, die sie über die Geschichte dieses Pferdes hat, reizt sie mehr als die Tatsachen. So werden wir wahrscheinlich nie erfahren, wer dieses Pferd gebaut hat. Ähnlich wie bei der Frage nach Rita und Jež.
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