Astrid Lindgrens Roman »Ronja Räubertochter« ist die diesjährige Produktion als Familienstück, das in der Vorweihnachtszeit auf dem Spielplan des Deutschen Theaters steht. Lukas Prießnitz hat für das Kulturbüro die Premiere besucht.
Das erste Läuten ertönt, die Kinder rennen noch aufgeregt den Gang auf und ab. Die letzten Rufe der Eltern, ob jemand noch auf die Toilette muss, hallen durch den Gang. Der zweite Gong ertönt und die Türen des Theatersaals öffnen sich. Alle suchen hektisch ihre Plätze und tauschen diese umher bis jeder eine gute Sicht auf die Bühne hat. Langsam werden die ersten ungeduldig und können das Öffnen des Vorhangs nicht abwarten. Ein letztes Mal gongt es, ein kleiner Junge flüstert laut seiner Mama zu, wann es denn jetzt endlich losgeht. Die Türen werden geschlossen und der Inspizient wirft einen letzten prüfenden Blick in den Saal. Ein dröhnender Donnerschlag ertönt, das Saal verdunkelt langsam, die Stimmen des Publikums verstummen und der Erzähler betritt die Bühne.
Im Deutschen Theater Göttingen findet heute die Premiere des von Astrit Lindgren geschriebenen und von Barbara Hass interpretierten Familienstücks »Ronja Räubertochter statt.« Regie führt Theo Fransz und das neuzeitlich gehaltene Bühnenbild steht unter der Leitung von Bettina Weller.
Nicht nur der Spielort, ein verlassenes Fabrikgelände und eine verrostete Straßenbahn, sondern auch die gesamte Geschichte ist in ein neuzeitliches Gewand gehüllt. Nichtsdestotrotz liegt auch in dieser Interpretation der Fokus auf Freundschaft, Emanzipation, Vertrauen und das Infragestellen von Geschlechtsstereotypen. Das für die ganze Familie ausgeschriebene Bühnenstück balanciert zwischen einer für Kleinkinder verständlichen Darstellung, aber auch für Eltern ansprechendes Schauspiel. Der Spagat gelingt dem Ensemble mit Schlagseite für die Kinder. Allerdings gibt es auch Pointen für die Eltern.
Ronja (Anna Paula Muth) und Birk Borkason (Moritz Schulze) kommen in derselben Nacht zur Welt, leben aber in verschiedenen Räubergruppen und bekommen so bis sie Teenager sind nichts von der anderen Person mit. Der Glatzen-Per (Andreas Jeßing) tritt zum einen als Erzähler auf und spricht mit dem Publikum und zum anderen ist er einer der Männer von Mattis (Gerd Zinck). Auf diese Weise werden die Situationen erneut erklärt und bewirken somit einen leichteren Zugang, allerdings führt der schnelle Wechsel zwischen den Rollen auch zu Verwirrungen. Ronjas Mutter, Lovis (Katharina Pittelkow), setzt sich schon früh für eine emanzipatorische Erziehung ein und schickt Ronja in den Wald, damit sie dort die Gefahren der Welt kennenlernt. Eines Tages treffen sich Birk und Ronja in der Mattisburg, an der Stelle an der einst ein Blitz einschlug. Sie freunden sich an, helfen sich gegenseitig aus gefährlichen Situationen und erkennen infolgedessen ihre gegenseitige Zuneigung. Sie gehen gar so weit, dass sie sich Schwester und Bruder nennen.
Nachdem Mattis, der Vater von Ronja und Räuberhauptmann, Birk gefangen nimmt und als Druckmittel verwendet, geht Ronja freiwillig zu Borka, damit ihr Vater Birk wieder frei lassen muss. Hierbei kommt die Freundschaft zwischen den Beiden auf und die Väter verstoßen daraufhin ihre Kinder. Ronja und Brik leben Aufgrund ihres Unverständnisses über das Verhalten ihrer Väter in einer verrosteten Bahn, nicht wie bei Lindgren in einer Bärenhöhle. Verwirrend ist die Rede von einem Wald, da der Spielort ein verlassenes Fabrikgelände ist.
Für einen gänzlichen Gang ins 21. Jahrhundert hätte die Umsetzung noch radikaler sein müssen, damit alles fließender ineinandergreifen kann. Kurz vor Winterbeginn kommt glücklicherweise Ronjas Vater und bittet sie um Vergebung. Die Beiden Verstoßenen gehen aus diesem Anlass zurück zu ihren Räubergruppen. Daraufhin verbünden sich die beiden Räuberhauptmänner, kämpfen jedoch darum wer der neue Hauptmann sein soll. Zum Ende hin wird es noch traurig, der Glatzen-Per stirbt. Allerdings fängt das Ensemble die traurigen und unheimlichen Situationen immer wieder ab und kombiniert sie mit einem humorvollen Spruch.
Ronja und Birk verkörpern die beiden Räuberkinder sehr ausdrucksstark und hingebungsvoll. Auch die jüngsten Besucher:innen verstehen auf diese Weise was Freundschaft, Vertrauen und Zuneigung bedeuten, aber kommen auch spielerisch mit dem Tod in Berührung. Die Kinder lernen so die Bedeutung vom Tod kennen und dass dieser zum Leben dazugehört. Einzelne Überspitzungen, wie den abgelutschten Finger in das Ohr der anderen Person zu stecken, ist für kinderlose Zuschauer:innen etwas albern, jedoch trifft es genau den Humor der Kinder und ist Teil der Modernisierung des Stückes.
Zwischen rosa Unterhemden des Räuberhauptmannes und starken weiblichen Charaktere werden wie bei Lindgren vorherrschende Klischees mit Ironie auf den Kopf gestellt. In dieser Inszenierung werden starke politische Akzente gesetzt und somit sowohl gegen toxische Männlichkeit als auch veraltete Vorstellungen der Geschlechter aufbegehrt. Das Bühnenbild wiederspiegelt die Modernisierung ebenfalls. Eine gute Mischung aus digitaler und analoger Technik. Für das Publikum scheint die Premiere eine reibungslose Vorstellung gewesen zu sein und würdigt das Ensemble für eine gelungene Neuinszenierung von »Ronja Räubertochter« mit einem tosenden Applaus.