In dem Stationendrama der ukrainischen Dramatikerin Nathalia Vorozhbyt geht es um die politischen und militärischen Verwüstungen des Krieges, noch mehr aber um die mentalen Schlachtfelder. Kulturbüro-Autorin Tina Fibiger hat die Premiere im Deutschen Theater besucht.
Zunächst durchdringt nur die Stimme der Kriegschronistin den dunklen Bühnenraum. Die Journalistin Natalia berichtet von ihrer Odyssee im Osten der Ukraine und wie sie sich in den Soldaten Sergej verliebt hat, der sie durch die brutale Kampfzone führt. Dort sind die Straßen schon so lange zerstört, und das nicht erst, seit russische Panzer das Gebiet verwüsten. Mehrdeutig versteht sich schon der Titel »Zerstörte Straßen«, den Nathalia Vorozhbyt ihrem Stationendrama gegeben hat. Es geht um die politischen und militärischen Verwüstungen, die 2014 zwischen Russland und der Ukraine aufflammten. Aber mehr noch geht es um die mentalen Schlachtfelder und das ungeheure Ausmaß an menschlichen Bestialitäten, die am Deutschen Theater in der Inszenierung von Niklas Ritter vor allem sprachlich zum Ausdruck kommen.
Auch wenn sich der Raum langsam erhellt, sind es eine Zeit lang noch Schattenfiguren mit den Silhouetten von Jenny Weichert und Marco Matthes, die sich am Rand der Drehbühne an die dramatische Chronik herantasten, von der später auch Daniel Mühe, Paul Trempnau, Nathalie Thiede und Tara Helena Weiß berichten. Wie drei Schülerinnen mit den kleinen Zuwendungen im Sexhandel posieren, kichern und tuscheln, was ihnen die uniformierte Kundschaft so alles einbringt. Oder wie ein Schuldirektor nur knapp der Verhaftung und der angedrohten Folter entgeht, weil er ganz schnell vergisst, dass eine seiner jungen Schülerinnen am Kasernentor als Prostituierte beobachtet hat.
Hoch auf ragen die dunklen Metallbögen (Bühnenbild Karoline Bierner), die die Fläche wie ein skelettartiger Körper dominieren und an einen Globus erinnern, von dem nur noch diese eine Hälfte existiert, in der das Seelenleben der Menschen verkommt und verblutet. Oft greifen dabei nicht einmal mehr die klassischen Täter-Opfer Kategorien. Lakonisch, abgeklärt, wütend und schmerzhaft sehnsüchtig lotet Jenny Weicherts Natascha das Verhältnis mit ihrem Liebhaber auf Zeit aus und wie sehr sie einem archaischen Männerbild und diesen unbeirrbaren Heldenposen erliegt. Bei Nathalie Thiedes Sanitäterin, die mit einem Soldaten und ihrem toten Liebhaber im Kofferraum unterwegs ist, hat sich der Ton verschärft. Der Fahrer hat keinen Bock auf einen Spontanfick und ist auch sonst viel duldsam bei ihren Wutattacken und der fast schon mörderischen Aggression.
Regisseur Niklas Ritter lässt diese Episode in Natalia Vorozhbyts Kriegschronik über akut alltägliche Episoden mit einer weiteren Begegnung kollidieren. Der Separatist (Paul Tremepnau) und die junge Journalistin (Tara Helena Weiß) haben keine Namen. „Er“ fällt über „Sie“ her, die das alles über sich ergehen lässt, die Demütigungen und die Vergewaltigung, dass er vor ihr masturbiert und mit weiteren Drohungen auf ihren Körper pinkelt, und beschwört eine romantische Liebesvision für ihn herauf. Später wird sie sich mit einem Ziegelstein um das Kunstblut auf seiner Stirn kümmern und mit einem Plastikpenis aus dem Wasserbeuel spritzen. Doch bei den Worten wollen und müssen auch die martialischen Requisiten und Gesten versagen, weil diese Inszenierung sich der Illustration von Bestialitäten verweigert, mit denen der Text so gnadenlos wütet und wirkt.
Anders als in den medialen Kriegschroniken mit ihren Kommentaren über Opferzahlen, Gefechtsstände und die aktuelle Zerstörungsbilanz fallen an diesem Abend Sätze aus dem Abgrund. die sich als schmerzhafte Zumutung für das Schauspiel-Team und für das Publikum verstehen. „Dann ziehe ich meinen Schwanz raus und fick dich in den Mund, in die ganze Kotze ficke ich dich und dann hole ich meine Kumpels, so zehn dreckige, verwundete Soldaten, die hier schon drei Monate ohne Weiber in der Scheiße sitzen“. Der gleiche Berserker erinnert sich unter gemeinsamem Gelächter an das Mädchen, das er auf einer Parkbank küsste, um dann mit den Juden, den „Scheißliberalen“ und den Schwulenparaden die nächsten Feindbilder zu attackieren, denen er diesen „Krieg der Brudervölker“ anlastet.
Abgründe lauern auch in diesem absurd anmutenden Szenario um ein tot gefahrenes Huhn. Eine jüngere Natasha (Tara Helena Weiß) will die bäuerlichen Besitzer großzügig entschädigen und wird dann vor allem für ihre Tierwohlbetroffenheit verprügelt und ausgeraubt. Wie zwei Komödianten schlurfen Nathalie Thiede und Marco Matthes über die Bühne und behaupten in Kostümen und Gesten zwei schlichte ländliche Gemüter, die ein bisschen Komik abbekommen haben Aber auch die kennen im alltäglichen Überlebenskrieg keine Gnade. Schließlich verwüstet der sie innerlich schon so lange.
Die ukrainische Dramatikerin hat ihr 2017 entstandenes Stück in diesem Jahr mit einem Epilog versehen. In dem bringt sie auch ihre Hilflosigkeit als schreibend dokumentierende Kriegschronistin zur Sprache, die das Leiden ihres Landes exportiert. Dass keine Zeile die menschlichen Verwüstungen aufhalten wird auch keine dramatische Klageschrift, aber dass das Nachdenken über eine humanistische Vision trotzdem nicht aufhören darf. Diesem Credo widmet sich auch Regisseur Niklas Ritter mit seinem Team in seiner Inszenierung, die sich keiner Zumutung des Textes verweigert, wie sehr sie auch erschreckt, verstört und ängstigt. Fast spürbar ist die Erleichterung des Premierenpublikums zum Schlussapplaus, das jetzt ein leidenschaftlich couragiertes Ensemble feiert, wie es hellhörig macht für die Dimensionen des realen Krieges auf den zerstörten Straßen, der bislang noch anderswo die Menschen verwüstet.
»Zerstörte Straßen« von Natalia Vorozhbyt feierte in der Inszenierung von Niklas Ritter am 10. Dezember 2022 Premiere im Deutschen Theater Göttingen. Weitere Vorstellungen stehen am 16. und 20. Dezember, am 17. Januar sowie im Februar 2023 auf dem Spielplan.