Sieben Kantaten standen bei den 4. Bach-Tagen in St. Jacobi im Mittelpunkt. Das Göttinger Barockorchester, der Kammerchor St Jacobi sowie Franziska Bobe, Nicole Pieper, Jörn Lindemann und Thomas Laske musizierten unter der Leitung von Stefan Kordes.
Sie sind immer eine Entdeckung wert, die Kantaten von Johann Sebastian Bach – und das nicht nur als kleine musikalische Schätze im Werk des barocken Meisters. Mit ihren Texten und den biblischen Versen regen sie auch zum Nachdenken an. Diese Momente der Besinnung, der Andacht und der Reflektion prägten die 4. Bach-Tage in der St. Jacobikirche.
Für die beiden abendlichen Konzerte und den Predigtgottesdienst am Sonntag hatte Kantor Stefan Kordes sieben Kantaten ausgewählt, die Bach zu den drei Sonntagen vor der Passionszeit komponiert hat. Von ganz besonderen Kleinoden schwärmt Hennig Vater, Konzertmeister des Göttinger Barockorchesters, zum Auftakt der Bach-Tage: „Es ist eine besondere Freude, diese Musik auch mit Sicherheitsabstand, begrenzter Platzzahl und Maskenpflicht vor großem Publikum aufzuführen!“ Diese Freude überträgt sich auch für die Konzertbesucher, die in St. Jacobi mit einer der hinteren Reihen vorliebnehmen müssen und am Freitagabend mit der Kantate Nimm, was dein ist, auf diesen Abend der musikalischen Reflexionen eingestimmt werden.
Im Programmheft wird der Berliner Musikschriftsteller Friedrich Wilhelm Marpurg zitiert der 1760 die „vortreffliche Deklamation“ rühmte, die Bach in der Kantate angebracht habe und dass „deren natürliches Wesen jedem sogleich in die Ohren fiel“. Darauf hat sich Kantor Stefan Kordes auch mit den Gesangssolist:innen Franziska Bobe (Sopran), Nicole Pieper (Alt) und Jörn Lindemann (Tenor) verständigt. Neben den Rezitativen haben die Arien ebenfalls narrativen Charakter, wie sie sich dem Thema Genügsamkeit mit dem wohltuenden Verzicht auf überhöhte Ansprüche widmen.
Betont wird die wohltuende Wirkung des Verzichts in der Kantate Ich bin vergnügt mit meinem Glücke mit den zarten Höheflügen von Sopranistin Franziska Bobe, zu denen Annette Berryman die Oboe jauchzen lässt, Hennig Vater seine Violine in die schönsten melodischen Verzierungen ausschwärmen lässt und der Schlusschoral mit dem St. Jacobi Kammerchor seinen strahlenden Glanz entfaltet.
Pastor im Ruhestand Dirk Tiedemann spricht in seiner Andacht auch von einem antikapitalistischen Gegenmodell, dass er in den Kantatentexten sogar zwischen den Versen vernimmt. Dabei geht es auch um das Vergnügen im sich Genügen, sich zufrieden geben und damit zufrieden sein, das im Zeitalter von Dauerkonsum und Dauerunzufriedenheit mehr denn je von Bedeutung ist. In der Kantate Sehet wir gehen hinauf nach Jerusalem komplettiert der Bassist Thomas Laske das Solistenensemble, das sich zum Auftakt der Bach-Tage auch den Motiven der Passionsgeschichte in berührenden Arien, musikalischen Dialogen und Rezitativen widmet.
Essenzielle Fragen, wie sie Bach in seinen Kantaten thematisierte, werden am zweiten Konzertabend noch vertieft. Musikalisch setzen die Solisten, der Kammerchor von St. Jacobi und das Göttinger Barockorchester zunächst einen stimmungsvollen Kontrast. Die Kantate Leichtgesinnte Flattergeister lässt an ein barockes Festgelage im Stil von Georg Friedrich Händel denken. Schwungvoll und spritzig kommentiert Bach die Gesellschaft der leichtgesinnten Flattergeister, die sich der christlichen Botschaft verweigern oder sie verkümmern lassen mit dramatischen Zwischentönen. Einen nicht nur dramatischer Kontrast bildet die Kantate Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott in ihren feinsinnigen musikalischen Reflektionen. Die elegischen Motive münden in einen sanft fordernden Puls und verweilen in der Arie für Sopran „Die Seele ruht in Jesu Händen“ in Momenten der Andacht, um jetzt feurig aufzublühen. „Wenn einstens die Posaunen schallen“, dann in diesem dramatischen Dialog, in dem das Publikum mit der Stimme von Thomas Laske und Trompeter Rupprecht Drees leidenschaftlich kraftvoll bestürmt wird, bis die Chorstimmen die erlösende Botschaft und ein sanfte friedliches Finale verkünden.
In die Themen und die biblischen Motive, die Bach in den beiden Kantanten musikalisch reflektiert, vertieft sich auch Prädikant Hendrik Munsonius in seiner Andacht. Es sind nachdenkliche Befunde über eine Zeit der zunehmenden Gereiztheit, in dem kaum Raum für Muße und Besinnung bleibt, wo das rationale und das ökonomische Denken Priorität haben und die ständig wachsenden Ansprüche an das Leben den Blick für das Evangelium und seine Botschaft wegblenden, wie sie bei den Bach-Tage in St. Jacobi zum Klingen gebracht werden.
Christina Fibiger
Mit den beiden Kantaten am Sonntag Jesus nahm zu sich die Zwölfe (BWV 22) und Du wahrer Gott und Davids Sohn (BWV 23) hatte sich Bach als Thomaskantor in Leipzig beworben. Ganz offensichtlich wollte er den Entscheidern zeigen, was er als Komponist leisten kann. Diese beiden Kantaten sind besonders einfallsreich und vielfältig komponiert. Pastor im Ruhestand Kurt Heyer, selbst Mitglied im Kammerchor St. Jacobi und damit Mitwirkender der Aufführungen, führte in seiner Predigt in die den Kantaten zugrundeliegenden Predigttexten einfühlsam ein. Unter den Musiker:innen ist vor allem die beiden Oboistinnen Annette Berryman und Aleksandra Mutwicka hervorzuheben. Und unter den Sänger:innen Franziska Bobe, die sehr kurzfristig als Sopranistin eingesprungen ist.
Mit den bereits vierten Bach-Tagen in an St. Jacobi innerhalb von zwei Jahren ist mit dieser besonderen Form der Kantatenaufführungen eine sehr schöne Tradition entstanden. Der große Andrang des Publikums, aber auch die hohe Qualität der Aufführungen zeigen, dass Kantor Stefan Kordes hier die richtige Entscheidung getroffen hat. Wie schön, dass das Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs noch zahlreiche musikalische Schätze enthält, die bei den noch folgenden Bach-Tagen an St. Jacobi zu Gehör gebracht werden können.
Jens Wortmann