Viele Kirchenbesucher:innen haben sie in den vergangenen zwei Jahren vermisst. Die »Klassik für Nachtschwärmer«, bei der sich am Wochenende zu später Stunde auch musikalisch so wunderbar ausschwärmen lässt. Vermutlich muss sich die Konzertreihe jetzt erneut herumsprechen. Mehr Zuhörer:innen hätte auch die Nachtschwärmerstunde am Samstagabend in der St. Johanniskirche verdient, um sich von Hennig Vaters Violine und Bernd Eberhardt am Flügel auf das Schönste beflügeln zu lassen, Augenblicke des Innehaltens zu genießen oder die schlichte Freude darüber, wie eine Melodie in Variationen aufblüht. Spontaner als so mancher Göttinger war ein Ehepaar aus Sachsen, dass auf seiner Reise in die Schweiz in Göttingen Station gemacht hatte und der Einladung am Seitenportal von St. Johannes einfach folgte und jetzt besondere musikalische Momente in seinem Reisegepäck erinnert.
Auch wenn Henning Vater in seiner Moderation den 100. Geburtstag von Fritz Kreisler nicht anspricht, verbindet sich mit dem Programm eine Widmung des Göttinger Geigers mit dem austroamerikanischen Komponisten und Violinvirtuosen. Zum Auftakt erklingt Kreislers Tempo di minuetto wie ein vergnügter Saitengesang mit einem Hauch von lyrischer Emphase. Auf virtuose Höhenflüge begibt sich Vater mit den Corelli-Variationen und ihren barocken Figurinen, um bei Kreislers Polichinelle einen Kobold hinter seiner Commedia dell'arte-Narrenkappe auf den Saiten tanzen zu lassen. Romantisch verzaubert dann das Präludium und Allegro im Stile Gaetano Pugnanis im neobarocken Gewand mit weiteren virtuosen Höhenflügen und einem meditativen Intermezzo, das Bernd Eberhardt am Flügel sanft grundiert.
Immer wieder verzaubern die beiden Musiker im Dialog ihrer Instrumente und in der harmonischen Feinabstimmung musikalischen Präziosen. Es sind vor allem emotional anrührende Momentaufnahmen, in die sie ausschwärmen, wenn sie Edward Elgars Chanson de Matin mit einem Hauch von Melancholie ummanteln und das Kaddish von Maurice Ravel mit schmerzhaft dramatischen Friedensvisionen. Bei Max Regers Aria und seiner Widmung für Johann Sebastian Bach lassen sie das Moment der Elegie anklingen und in der Meditation aus Thais von Jules Massenet die anmutige Schönheit der Poesie und verbinden sie mit den expressiven Farben in der Filmmusik von John Williams, Ennio Morricone und der von Astor Piazzolla. Sein Tanti anni Primafür den Film Heinrich IV geht unmittelbar zu Herzen, wie eine schmerzhaft schöne Wunde, die ewig glüht.
Mit einem heiter vergnüglichen Saitengesang schließt sich der musikalische Kreis zu in St. Johannis. Die schöne Anfangsstimmung mit Kreisler möchten Hennig Vater und Bernd Eberhardt überwiegen lassen und verabschieden das Nachtschwämer-Publikum mit einem musikalisch beschwingenden Morgen-Gruß von Richard Strauß. Das möchte zu später Stunde gern noch ein bisschen weiter schwärmen und bekommt dann für die Nacht mit dem Abendlied von Robert Schumann noch ein Moment Musical zum andächtig träumen.