Sein Pfeil trifft den Apfel und durchdringt auch den Hals des Landvogts. Dennoch ist dieser Wilhelm Tell kein strahlender Freiheitskämpfer. Ein wortkarger und sehr verschlossener Bergbauer und Jäger will seine Familie vor weiteren Übergriffen der Habsburger Besatzungsmacht schützen, bevor er sich endgültig in eine endlose Schneelandschaft begibt. Nicht nur »Die Geschichte vom Apfelschuss« wird am Deutschen Theater nach Motiven des Romans von Joachim B. Schmidt neu erzählt. Sie kommt in der dramatisierten Fassung von Florian Eppinger auch anders zur Sprache. Lukas Beeler, Marco Matthes, Judith Strößenreuter und Florian Eppinger hören in die Stimmen einer ländliche Lebenswelt hinein, die von einem Alltag der ständigen Überlebenskämpfe geprägt ist und nicht von gefeierten Nationalmythen.
Irgendwann an diesem Abend geht es wie auch in Friedrich Schillers Schauspiel über den rebellischen Freiheitskämpfer um Rache und Gerechtigkeit im Widerstand gegen die mörderische Habgier der Besatzer. Doch auf der Bühne werden keine wortgewaltigen Bündnisse geschmiedet und in Szene gesetzt. Diese Gebirgsmenschen sind verschwiegen, wie sie so ganz für sich sind, während sie sich auf ihren Höfen abrackern. Wie in Joachim B. Schmidts Roman hören sie auf der Bühne in sich hinein und was sie von den Ereignissen wahrnehmen, das ihnen zu denken gibt.
Zunächst bilden vier Tische einen gemeinsamen Treffpunkt und werden später einzeln immer wieder verschoben. An denen haben die vier Schauspieler:innen mit den Textbüchern wie für eine szenische Lesung Platz genommen. Sie geben den Romanfiguren ihre Stimmen und den Worten sparsame Gesten ohne jetzt auf eine Figur festlegt zu sein. Die Geschichte vom Apfelschuss, wie es dazu kam und was danach geschah, wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, abwechselnd von den unmittelbar Beteiligten und von denen, die daran Anteil nehmen. Doch gerade weil kaum keine der Figuren eindeutig lesbar ist und jeder Schauspieler sie anders erzählt und betont, vertieft sich so der Blick auf das, was sie in ihren Überlebenskämpfen umtreibt und auch in ihren Schaukämpfen.
Auch die Bühnenerzählung über die Geschichte vom Apfelschuss rankt sich um den überlieferten Mythos der Ereignisse. Dass Tell sich nicht vor der Stange mit dem Hut des Landvogtes Gessler beugte und deshalb einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schließen musste, um einem Todesurteil zu entgehen. Dass er trotzdem eingekerkert werden sollte, weil er bei einem Fehlschuss mit einem zweiten verborgenen Pfeil auf diesen Gessler gezielt hätte und dass ihm das nach seiner erfolgreichen Flucht auch gelang.
Doch jetzt erzählt zunächst seine Familie, was diesen wortkargen Wilhelm Tell mit der Schuld am Tod seines Bruders Peter umtreibt. Es sind die Frauen, die den Alltag auf dem abgelegenen Bergbauernhofmeistern meistern, die Ehefrau Käthe, die Schwiegermutter und unbeugsame Mutter, die sich den Schergen des Landvogts und deren Anführer Harras entgegenstellt. Der ältere Sohn Karl erzählt, wie sehr er die Anerkennung seines Vaters herbeisehnt, für den er schon vor dem Apfelschuss jede Mutprobe aufgenommen hätte und von der ersten bedrohlichen Begegnung mit den Habsburger Besatzern. Auch die wollen in diesem Szenario zu Wort kommen, mit ihrer Begeisterung für das Kriegsgeschäft, die aggressiven Stimmen ebenso wie die angepassten und schüchternen, die sich wechselseitig bestärken, wenn sie Höfe plündern, Frauen vergewaltigen und ihre blutigen Spuren genießen. Allen voran ihr Anführer Harras, den neben dumpfer Brutalität auch taktisches Kalkül gegen diesen Landvogt antreiben. Noch weniger als die raue Gebirgslebenswelt behagt dem adeligen Besatzer der schmutzige Alltag des Kriegsgeschäftes, das ihm seine tumb wütende Soldateska vorführt.
Der Tyrann, wie ihn Schiller in seinem Drama wüten ließ, fällt ebenso aus der mythologisch überlieferten Rolle wie der Tyrannenmörder, der in dramatisierten Erzählung von Joachim B. Schmidt einen Gewissenskrieg gegen sich selbst führt. Den Bruder konnte er nicht vor der Lawine retten, um seinem Sohn eine tödliche Bedrohung zuzumuten und auch in dem Gespräch mit dem Pfarrer keine Erlösung findet. Der bestärkt den wortkargen Einzelkämpfer, endlich seine ganze andere Geschichte zu erzählen, wie er als Kind von einem Seelsorger missbraucht und dann fast verstummte.
Im Bühnenhintergrund verfärbt sich erneut die Silhouette einer Gebirgskette, die Bühnenbildner Thomas Rump mit langen Holzstäben und metallenen Spitzen stilisiert hat. Eine Waldlandschaft deutet sich an und bald darauf eine menschenleere Schneelandschaft, die sich dieser Tell wie einen Ort der Stille ersehnt. Die Stimmen, die seine Geschichte neu erzählen, werden auch weiter ihre Echos hinterlassen.
»Tell - Die Geschichte vom Apfelschuss neu erzählt.« nach dem Roman von Joachim B. Schmidt hatte in der Regie von Florian Eppinger am 30. September 2022 Premiere im Deutschen Theater Göttingen.