Es gibt keinen wohnlichen Ort auf der Bühne des Jungen Theaters, nur hölzerne Palisaden, zwei Podeste, wenige Requisiten und diesen Zirkusvorhang, der sich manchmal für ein launiges Intermezzo hebt. Unbehaust erscheint auch Georg Büchners »Woyzeck«, wie er sich durch seine täglichen Pflichten kämpft und hungert und ständig von Albtraumvisionen umklammert wird. Es gibt auch eine Unerträglichkeit des Seins, ohne eine Spur von Leichtigkeit, die in der Inszenierung von Tobias Sosinka und Christian Vilmar Inszenierung Ausdruck kommt. Sie widmen diesem ewigen Schmerzensmann Woyzeck ein schmerzhaft dramatisches Porträt.
Zunächst belebt ein großes Jahrmarktspektakel den Raum mit seinen starren Wänden im Bühnenbild von Susanne Ruppert. Allzu gerne möchte sich Woyzeck mit seiner Marie von all dem Budenzauber mit dressierten Affen und Pferden berauschen lassen, das schöne Schwindelgefühl beim Tanzen genießen. Michael Johannes Mayer lässt bereits die Anspannung ahnen, die seinen Woyzeck umtreibt. Wie er nach seinen letzten Münzen greift, um Marie (Fabienne Elisabeth Baumann) mit dem tierischen Budenzauber eine Freude zu machen, die den Versprechungen des Ausrufers (Jan Reinartz) so gern folgen möchte. Und wie er die Blicke des Tambourmajors (Jens Tramsen) auf seine glücklich strahlende Gefährtin verfolgt. Fast scheint es, als ahnt er bereits, dass sie ihn betrügen wird. Für die Aussicht auf bisschen mehr Wohlstand und eine militärisch herausgeputzte starke Schulter; all das, was ihr Woyzeck gern versprechen, aber nicht bieten kann.
Der verausgabt sich bis zum letzten für sie und ihren unehelichen Sohn, wenn er nicht nur für seinen mageren Soldatensold strammsteht, sondern als Versuchskaninchen für den Doktor (Dorothea Röger) drei Monate lang nur Erbsen essen darf und mit Verhaltensregeln drangsaliert wird. Weitere Almosen kann er bei seinem Hauptmann (Jan Reinartz) abschöpfen, den er täglich rasiert, und der ihn dafür mit Bekundungen über Moral und Anstand und Tugend bedrängt.
Es wird immer enger zwischen den Holzfronten, wo es bald nur noch um das Dulden und das Aushalten geht, die verächtlichen Blicke von allen Seiten auf den erschöpften Looser, wie er ewig hetzt, anstatt ein guter Mensch zu sein, der sich gefälligst in sein Schicksal zu fügen hat. Mit dem Soldaten Andres (Tobias Schaaf) schleppt sich ein Bettler mit Ästen durch das vermeintlich freie Feld, den immer wieder apokalyptische Visionen heimsuchen und diese scherzhaft quälende Eifersucht.
Der Hauptmann wird mit seinen Verdächtigungen das Messer noch tiefer in die Herzwunde treiben und der Doktor sein Versuchsobjekt als erfolgreiches wissenschaftliches Hungerexperiment öffentlich vorführen. Für diesen Woyzeck spielt es dann auch keine Rolle mehr, dass sich Marie in ihren Gewissensnöten an Bibelzitate klammert und die ewig lauernde Magreth (Agnes Giese) die tragische Geschichte vom einsamen Kind und seinen vergeblichen Himmelsträumen wie einen spöttischen Abgesang verkündet.
Es ist auch eine Geschichte vom Verlust der Menschenwürde, die Tobias Sosinka und Christian Vilmar mit dem Porträt des ewigen Schmerzensmann Woyzeck erzählen. Wer am untersten Rand der Gesellschaft um sein Überleben kämpft, muss sich ausbeuten und demütigen lassen und hat auch keinen Anspruch auf Empathie. Eine ebenso herrische wie mitleidslose Haltung drängt aus den Figuren heraus, wie sie sich mit den Verhältnissen, so wie sie sind, arrangiert haben. Büchners Aufruf „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ fände bei ihnen kein Gehör.
»Woyzeck« von Georg Büchner in der Inszenierung von Tobias Sosinka und Christian Vilmar hatte am 8. Oktober 2022 Premiere im Jungen Theater Göttingen.