„Erschreckend nahe geht die Zeitlosigkeit, die aus den Nahaufnahmen und den Chorstimmen spricht,“ beschreibt Kulturbüro-Autorin Tina Fibiger die dramatische Fassung von »Früchte des Zorns« nach dem Roman von John Steinbeck.
Eine Nebelwolke durchdringt den Bühnenraum mit stürmischen Windräuschen; wie einer dieser Sandstürme, denen die Familie Joad in John Steinbecks literarischer Chronologie »Früchte des Zorns« ausgesetzt ist. Die Dürre hat ihre Felder austrocknen und den Ernteertrag verkümmern lassen. Den Rest erledigen die neuen Pachtverhältnisse, die eine erträgliche Bewirtschaftung unmöglich machen und die Familie in die Flucht nach Kalifornien treiben.
Viel Zeit vergeht, bis eine Gestalt das anhaltend monströse Dröhnen der Wind- und Nebelmaschinen mit Worten durchdringt, die an eine apokalyptische Vision denken lassen. Dieser Vision stellt sich am Deutschen Theater ein Chor von Überlebenskämpfern mit Steinbecks dramatischer Odyssee in der Inszenierung von Christoph Mehler.
In seinem Roman »Früchte des Zorn« beschreibt Steinbeck die Bösartigkeiten, denen die Joads mit ihre Hoffnung auf ein besseres Leben ausgesetzt sind. In einem Strom von Migrantenfamilien werden auch sie ständig beschimpft, angegriffen und nach irgendwo anders hin vertrieben. Niemand will sich auf diese vermeintlichen Wegelagerer mit ihrem armseligen Gepäck einlassen, die ja angeblich nur auf Almosen spekulieren.
Christoph Mehler hält in seine Inszenierung immer wieder inne für Nahaufnahmen, mit denen das Schauspiel-Team in das Innenleben seiner Figuren hineinhört, und was dieser andauernde Überlebenskampf ihnen zumutet. Judith Strößenreuter trotzt als mütterliche Kraft diesen Zumutungen, an denen Marco Matthes als Familienoberhaupt erschöpft. Die schwangere Tochter Rose (Tara Helena Weiß) träumt vom einem häuslichen Vorstadtidyll, bis sie von ihrem Verlobten Connie (Daniel Mühe) verlassen wird. Sohn Al (Lukas Beeler) würde sich mit seiner Begeisterung für sprintstarke Maschinen in jeder Autowerkstatt beheimatet fühlen. Sein Bruder Tom (Paul Trempnau) wurde gerade aus Gefängnis entlassen und sucht die Herausforderung, die auch seine wütenden Energien erdet. Onkel Frank (Christoph Türkey) will sich endlich mit der Vergangenheit versöhnen, die auf seinen Schultern lastet und schließt sich dem Aufbruch an; mit ihm auch Casey (Gabriel von Berlepsch) als glaubensabtrünniger Wanderprediger ohne Hoffnung auf eine versöhnende Zukunft.
Kontrastiert werden die Nahaufnahmen von einem Chor der Stimmen, den die acht SchauspielerInnen bilden, wenn sie die Ereignisse erzählerisch begleiten und dabei auch die politischen und sozialen Verhältnisse anprangern. Gemeinsam lassen sie die Empörung gären und lautstark wüten, die sich unterwegs auf der legendären Route 66 nach Westen immer mehr zuspitzt und die Familiensolidarität allmählich zersplittert.
Erschreckend nahe geht die Zeitlosigkeit, die aus den Nahaufnahmen und den Chorstimmen spricht. Das können die Bilder von Arbeitssklaven sein, die sich in den afrikanischen Coltan Minen zu Tode schuften oder ohne sozialen Halt auf den südeuropäischen Obst- und Gemüseplantagen dahinvegetieren, die »Früchte des Zorns« unmittelbar abruft.
Schon in Steinbecks literarischer Dokumentation über die Flüchtlingsströme nach der Weltwirtschaftskrise und die Hungerlöhne mit denen Wanderarbeiter und Erntehelfer, nachdem Prinzip „Friss oder stirb“ erpresst wurden, rüsten sich die Bürgerwehren rassistisch auf. Und noch immer dominiert der kapitalistische Wettbewerb, bei mit den globalen Ressourcen auch das sogenannte Humankapital gnadenlos ausbeutet wird; in seinen Lebens- und Überlebensverhältnissen.
Dafür braucht es auf der Bühne keine naturalistischen Zuschreibungen, sondern nur den leeren Raum, den Bühnen- und Kostümbildnerin Jennifer Röhr mit acht Stühlen an der Rückwand und dem Schriftzug „Hope“ ausgestattet hat. Die Schauspieler:innen in ihren schwarzen Overalls rufen mit ihren Figuren die Bilder im Kopf ab, mit denen der Text in der Reflexion und emotional Alarm schlägt. Die Bilder in Christoph Mehlers Inszenierung wollen so schmerzhaft berühren und berührbar machen, wie sie die Verhältnisse widerspiegeln, in denen sich eine Familie kämpferisch erschöpft und doch nicht aufgeben wird. So wie die Nebelwolke durchdringen dann auch die Chorstimmen den Bühnen- und den Zuschauerraum manchmal bis an die Schmerzgrenze, aber immer mit aller Leidenschaft und Empathie für Steinbecks »Früchte des Zorns« und was sie anmahnen wollen und müssen.
Die Botschaft trifft auf ein hellhöriges Premierenpublikum, das sich mit enthusiastischem Beifall für diesen Theaterabend bedankt.
Die Premiere der Theaterfassung von John Steinbecks »Früchte des Zorns« war am 5. November 2022 im Deutschen Theater. Weitere Vorstellungen stehen am 2. und 28. Dezember sowie im Januar 2023 auf dem Spielplan.