Die große, vor über 50 Jahren erbaute Orgel in der St. Jacobikirche Göttingen hat seit vergangenem Wochenende eine kleine Schwester: eine neue Truhenorgel – kompakt, mit fünf Registern, tragbar und leicht beweglich, die die Jacobi-Kirchengemeinde noch vor Beginn der Pandemie in Auftrag gegeben hatte. Seither wurde geplant, vorbereitet, einstudiert, in den letzten Wochen aber vor allem gebangt – doch mit der nötigen Vorsicht konnte die lang ersehnte Einweihung mit sechs Bach-Kantaten bei den „1. Bach-Tagen St. Jacobi“ vom 30. Oktober bis zum 1. November umfassend zelebriert werden.
Bei der geistlichen Abendmusik zum Reformationstag, dem Herz dieser Bach-Tage, waren gleich zwei umfangreiche Bach‘sche Kantaten zu hören, die im Kirchenjahr kaum weiter auseinanderliegen könnten: Mit einer Kantate für den Sonntag Jubilate, dem dritten Sonntag nach Ostern, und einer für den 22. Sonntag nach Trinitatis boten ein Ensemble aus vier Gesangssolist*innen, das Göttinger Barockorchester und Mitglieder der Kantorei St. Jacobi unter der Leitung von Kantor Stefan Kordes einen bewegenden musikalischen Abend, der der festlichen Einweihung der Truhenorgel mehr als gerecht wurde.
Wie vielseitig und kräftig die neue Truhenorgel klingt, zeigte Organist Stefan Kordes, dessen souveränes Spiel glänzend mit dem Barockorchester harmonierte, eindrucksvoll in der einleitenden Sinfonia aus der Bach-Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal gehen“. Er sorgte mit dem musikalischen Kleinod für eine Grundierung des sinfonischen Satzes des barocken Meisters, zeigte in anspruchsvollen Solopartien dessen breite Klangfülle auf und bewies, wie bei den Tutti-Stellen die Orgelklänge mit jenen von Streich- und Holzblasinstrumenten harmonisch verschmelzen.
Mit „Ich armer Mensch, ich Sündenknecht“ kam die einzige von Bach erhaltene Solo-Kantate für Tenor zum Tragen. Das nach Pastor Harald Storz alles andere als optimistische, „wohltuend realistische Menschenbild“, das darin zum Ausdruck kommt und dem zufolge der Mensch seinem Wesen nach ein Sünder, aus krummen Holz geschnitzt, irrtumsfähig und auf Gottes Gnade und Vergebung angewiesen ist, zeichnet Tenor Andreas Fischer affektbetont und mit Expressivität nach. Ein dichter polyphoner Satz von Flöte, Oboe d’amore und zwei Violinen begleitete seinen Gesang in der ersten Arie. Im anschließenden Rezitativ wird in drastischen Bildern die Ausweglosigkeit vor Gott geschildert. Die zweite Arie ist ebenso ausdrucksvoll, begleitet von einer virtuosen Traversflöte, gespielt von Britta Hauenschild, der ein Höchstmaß an musikalischer Ausdrucksstärke gelingt. Dieses Panoptikum menschlicher Schuld kulminiert in dem Vers „Erbarme Dich“ und weist damit deutliche Parallelen zur Passionsgeschichte auf, die Bach in seiner Matthäuspassion verarbeitet – die Reue Petrus‘ nach der Verleumdung Jesu. Abgerundet wurde die Kantate durch den Schlusschoral, bei dem die Kantorei Intensität und Kraft gleichermaßen umzusetzen wusste.
Nach einer biblischen Lesung von Pastor Storz knüpfte die Kantorei mit dem Chor „Wir müssen durch viel Trübsal“ an die großdimensionierte einleitende Sinfonia an, die Bach-Kenner*innen schon aus einem anderen Zusammenhang vertraut war: aus dem ersten Satz des Cembalokonzerts d-Moll BWV 1052. Auch der Chorsatz basiert auf dem Cembalokonzert, doch handelt es sich dabei um ein kunstvolles Neu-Arrangement, in dem die Kantorei mit großen Bögen und präzisen Akzenten das Trübsal spürbar machte. Besonders hervorzuheben ist die folgende Alt-Arie, in der die stimmgewaltige Nicole Piper mit voluminöser Tiefe und Leichtigkeit in den Höhen das Kirchenschiff erstrahlen ließ. Nicht weniger überzeugend präsentierten sich auch die anderen beiden Solist*innen. Anna Nesyba setzte mit agilem, hellem Sopran markante Akzente in Arie und Rezitativ. Marian Müller zeigte seinen kraftvollen, resonanzreichen Bass mit Fischer in dem Himmelsmusik-Duett „Wie will ich mich freuen“, bei dem sich Tenor und Bass in harmonischen Terzen und Sextenparallelen bewegten und von dem vollstimmigen, tänzerischen Barock-Klang des Orchesters umrahmt wurden. Der Spannungsbogen von der anfänglichen Dramatik über diese Himmelsmusik reichte bis zum abschließenden Choral „Freu Dich sehr, Du meine Seele“, der die Freude musikalisch hörbar machte.
Das festlich-bewegende Konzertprogramm brachte das neue Instrument in all seinen Facetten zum Klingen. Doch der Facettenreichtum war nicht nur musikalischer, sondern auch inhaltlicher Natur: Die beiden Bach‘schen Kantaten boten ein kurzes Innehalten und Nachempfinden unterschiedlichster Emotionen – auch solcher, die der Mensch eher zu verbergen sucht: Schuld, Erkenntnis und Reue, Hilflosigkeit und Angewiesen-Sein, aber auch Freude und die Sehnsucht nach Versöhnung und Frieden.
Katharina Gooß
Die Bach-Tage fanden ihren Abschluss in einem Gottesdienst am 1. November in St. Jacobi: im Mittelpunkt stand die Kantate „Ich geh und suche mit Verlangen“, BWV 49. Als Solisten bewiesen noch einmal Anna Nesyba (Sopran) und Marian Müller (Bass) ihre Qualitäten. Begleitet wurden sie von Henning Vater und seinem Göttinger Barockorchester, an der Orgel spielte Kantor Stefan Kordes – der beim abschließenden Applaus sich sichtbar bei seinem neuen Instrument bedankte.
Jens Wortmann