Die Oper Rodelinda feierte zum Auftakt der diesjährigen Internationalen Händel-Festspiele ihre umjubelte Premiere im Deutschen Theater. In der Regie von Dorian Dreher und mit dem Bühnenbild und den Kostümen von Hsuan Huang wurde das mittelalterliche Geschehen in die Zeit um 1920 verlegt. Genau in diesem Jahr feierte die Aufführung in Göttingen unter Oskar Hagen ihre Premiere, es gilt als das Gründungsjahr der Festspiele und als Geburtsstunde der internationalen Händel-Renaissance.
Was hat Oskar Hagen an diesem Stoff fasziniert? Welche inhaltlichen und ästhetischen Beweggründe mochte er wohl haben, in dieser Zeit nicht auf die neuen musikalischen Entwicklungen zu reagieren, sondern die 200 Jahre alte Musik wieder auszugraben? Neben den umwerfenden Leistungen der Musiker:innen im Orchestergraben und auf der Bühne ist es spannend, wie das Produktionsteam genau dieser Frage nachgeht.
Häufig wird in der Geschäftsstelle der Festspiele vorab gefragt: wird es eine schöne oder eine moderne Inszenierung? Um es vorwegzunehmen: die Inszenierung überzeugt in allen Belangen und ist so modern, wie auch die von 1920 gewesen sein muss. Trotz opulenter Ausstattung kommt die Bühne eher schlicht daher und bieten den Raum für die handelnden Personen. Dabei sind die Zitate an die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht zu übersehen: vom Halbvorhang im Stil von Bertold Brecht (die „Brecht-Gardine“), bis zum Mephisto im Kostüm von Gustav Gründgens oder den zahlreichen surrealen Motiven im Bühnenraum wie den Elefant von Celebes von Max Ernst – es gibt zahlreiche Elemente dieser Ära, die mehr oder weniger versteckt auftauchen.
Und in diesen Formen der Verfremdung mit zum Teil surrealen Mitteln agieren die Sänger:innen und bilden eine Gesellschaft ab, die ganz offensichtlich im Umbruch ist. Das ist bereits in der Ouvertüre zu spüren, es knistert förmlich von den Wänden und auf den Brettern der Bühne.
Die Personen auf der Bühne haben es nicht leicht: eine Arie jagt die nächste, es gibt kaum Dialoge, die Rezitative sind verhältnismäßig kurz. „Die Figuren entblößen sich und geben Bekenntnisse ab. Sehr modern, wie gegensätzliche Gefühle in den Arien gezeigt werden“, beschreibt Dorian Dreher die psychologische Komponente der Figurenführung. Und so behandelt er auch die Figuren auf der Bühne. Da entstehen eine ganze Reihe von Gänsehautmomenten: Garibaldo (Julien Van Mellaerts) schminkt sich in seiner Arie im ersten Akt – um ganz am Ende des Stücks als Mephisto alias Gustav Gründgens voll geschminkt zu erscheinen. Das Geschwisterpaar Eduige (Franziska Gottwald) und Bertarido (Christopher Lowrey) bewegen sich während Bertaridos Arie „Con rauco mormorio“ rückwärts aufeinander zu und erkennen sich erst allmählich. Das Schwert, das über Bertarido im dritten Akt schwebt, wirkt zunächst wie ein Damokles-Schwert, wird dann aber zum wichtigen Utensil der Rettung aus der Gefangenschaft. Das sind nur drei Beispiele, wie Dorian Dreher Stilmittel einsetzt und die Arien nicht einfach „von der Rampe“ gesungen werden.
Das stellt eine große Herausforderung dar, die aber vom gesamten Ensemble auf der Bühne phantastisch umgesetzt wird. Anna Dennis als Rodelinda verkörpert die verschiedenen Emotionen in der Oper noch am deutlichsten: souverän wechselt die Sopranistin die Gemütszustände von großer Trauer, Wut und Verzweiflung, Sehnsucht und großer Liebe – und zeigt eine moderne, selbstbestimmte Frau. Christopher Lowreys Countertenor steht dem um nichts nach, faszinierend ist sein Dynamikumfang: vom zarten Pianissimo bis zum kraftvollen Forte überzeugt er in jedem Moment. Und in seiner Schlussarie zeigt er seine Kunstfertigkeit im Singen halsbrecherischer Koloraturen. Große schauspielerische und sängerische Fähigkeiten zeigt auch der Countertenor Owen Willetts als Unulfo. Thomas Cooley als Grimoaldo verkörpert im Spiel und in der Musik am ehesten den Umbruch. In seiner Arie „Prigioniera ho l’alma in pena“ – „Meine Seele ist im Leid gefangen“ friert die Handlung um ihn herum ein, die Bühne wird in blaues Licht getaucht. Eine der vielen Szenen, die Gänsehaut verursachen. Thomas Cooley glänzt mit seinem beweglichen Tenor nicht nur in dieser Szene. Franziska Gottwald spielt und singt die Rolle der Eduige und zeigt mit ihrem warmen Mezzosopran tiefe Einblicke in die Gefühlswelt.
Das bestens aufgelegte FestspielOrchester Göttingen mit der Konzertmeisterin Elizabeth Blumenstock unter der Leitung von Laurence Cummings hat am Gelingen dieser Opernproduktion erheblichen Anteil: subtil formt Cummings in seinen letzten Festspielen in Göttingen die Musik, filigran setzen die Streicher die Zeichengebung um. Von den Bläsern gibt es immer wieder solistische Momente, genannt sei hier stellvertretend die Fagottistin Rhoda Patrick in der Arie der Eduige „Con rauco mormorio“ („Mit leisem Plätschern weinen Bäche und Quellen über meine Trauer“). Mit großem Feingefühl gestaltet sie ihren Part der Arie und verleiht ihr so die besondere Stimmung. Dasselbe ließe sich auch für andere Arien über die Flöte (Kate Clark) oder die Oboen (Susanne Regel und Kristin Linde) sagen.
Musiker:innen und das Produktionsteam bekamen am Ende der Premiere lange Applaus und Bravi – und das völlig zurecht. Denn diese Opernproduktion ist von der Ouvertüre bis zu dem denkwürdigen Schluss mit der stummen Kinderrolle des Flavio (Finn Geiges) stimmig und überzeugend. Die Musik in den Ohren, die Bilder vor Augen und die Flut von verschiedenen Emotionen bleiben nachhaltig im Kopf und berühren das Herz.
Die Premiere fand am 11. September 2021 statt. Weitere Aufführungen stehen am 17., 18. Und 19. September auf dem Spielplan der Festspiele. Am 12. September gibt es um 15 Uhr eine „Familienfassung“ der Oper, moderiert von Jurie Tetzlaff. |
Zur Inszenierung gibt es ein Interview mit dem Regisseur Dorian Dreher hier in der Podcast-Folge „Händel on Air“.