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Deutsches Theater

Mögliche Lesarten der Lebens- und Familiengeschichte

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»Fragmente der Zärtlichkeit« auf der dt.2 Bühne
von Tina Fibiger, erschienen am 11. April 2023
Jenny Weichert, Moritz Schulze, Marco Matthes in »Fragmente der Zärtlichkeit« | © Photo: Lenja Kempf

Ein Feuerzeug flammt auf, und das gleich mehrfach. Hinter einem Vorhang aus Perlenschnüren zeichnet sich für den Moment das Gesicht des Chronisten ab, bis sich der dunkle Bühnenraum im dt.2 schließlich erhellt. Mit den Worten „Ich erinnere mich“ nähert die Gestalt der Spielfläche. Sie spricht von Farben, Geräuschen und Satzfetzen, um dann auch früheren und spätere Momentaufnahmen einzublenden und die seltenen „Momente der Zärtlichkeit“ wie sie der französische Schriftsteller Édouard Louis in den beiden Romanen über seine Eltern nachzeichnete. 

Auf der dt.2. Bühne trifft die literarische Chronik »Wer hat meinen Vater umgebracht« auf die biografischen Reflektionen über »Die Freiheit einer Frau«. Regisseur Moritz Franz Beichl hat sie für ein Schauspiel verwebt, in dem der Autor (Moritz Schulze) und seine Eltern (Jenny Weichert, Marco Matthes) einer desolaten Familiengeschichte wiederbegegnen und manchmal sogar gemeinsam Licht in die düsteren Altlasten bringen. Sie fragen sich dabei auch, was hätte sein können, wenn die Verhältnisse anders gewesen wären, nicht so armselig erschöpfend, brutal verletzend, homophob. 

Es muss auch Raum für Träume gegeben haben, so wie sie Moritz Schulzes Édouard auf einem Foto von früher im Gesicht seiner Mutter anstrahlen und Jenny Weichert dieses Strahlen noch einmal annimmt. Das war, bevor dem jungen Eddy die ungebildete Frau in dem übergroßen Mantel so peinlich wurde, dass er sie in der Schule verleugnete und sich für die mangelnde Zuwendung rächte. Der Édouard, der sich aus dem gesellschaftlichen Abseits in die literarische Oberliga gekämpft hat, bedrängt sie mit weiteren verletzenden Erinnerungssplittern, wie sie die aggressive Bevormundung ihres Mannes duldete, seine ewigen Kneipentouren und die ständigen Demütigungen, von denen auch die vier Kinder nicht verschont blieben. Doch die bleiben nicht unwidersprochen. Jenny Weichert behauptet die Erinnerungsspur einer Frau, die sich über lange Jahre wie ein Putzlumpen malträtieren und erniedrigen ließ, bis sie sich aus diesem Ehe- und Familienkäfig befreite. In der aufrechten Haltung der Schauspielerin spiegelt sich die gebückte Gestalt, die immer noch mehr Lasten auf ihren Schultern zu stemmen hat. Manchmal erscheint ihr Gesicht von Altersfurchen durchdrungen und im Elend ergraut, in dem ein Rest von kämpferischem Elan und Leidenschaft überlebt hat, der diese Erinnerungsspuren überlagern wird.

Marco Matthes verweilt noch eine ganze Zeit lang hinter diesem Vorgang aus Perlenschnüren, der die Spielfläche von drei Seiten ummantelt. Doch er ist bereits als Schattengestalt ständig präsent, wenn sich Moritz Schulze und Jenny Weichert in die Retrospektive von Mutter und Sohn begeben, in der Rolle des Mitverursachers ebenso wie in der des teilnehmenden Beobachters. Die „Fragmente-der-Zärtlichkeit-Momente“, zu denen Edouard Louis in »Die Freiheit einer Frau« vordringen möchte, spiegeln sich auch den retrospektiven Begegnungen »Wer hat meinen Vater umgebracht?«, die auf der dt.2 Bühne auf ihre Weise hellhörig machen.  

Die wortkarge Gestalt, wie sie in ihrer Verwandlung vom scheinbar kultivierten Gefährten in ein dominant wütendes Familienoberhaupt beschrieben wurde, verweigert sich keineswegs der Schuldfrage, doch sie erfüllt die Rolle des tradierten Feindbildes nicht, für die Édouard die gesellschaftlichen Verhältnisse haftbar macht. Wie ein Mann ohne Bildungs- und Aufstiegschancen nach einem Arbeitsunfall nur noch als Billiglohnsklave tragbar war und dabei körperlich und seelisch auch im Zusammenleben mehr und mehr verwahrloste. Doch der hatte der seinem Sohn zum Geburtstag das Titanic-Video mit edlem Zubehör geschenkt, der es dann so oft wie er wollte ansehen konnte, ohne wütende Kommentare zu riskieren. Dieser Mann, der seiner Frau eine Abtreibung verweigert hatte, den Führerschein und noch den Rest von Freiraum, blieb stumm, als sich der Sohn bei einer Familienfeier mit seiner kleinen Performance bereits zu outen versuchte. Er ging stattdessen eine Zigarette rauchen, heißt es in der gemeinsamen Erinnerung, die nun wie ein heimliches Einverständnis anmutet. Das Kind würde sich auch später nicht den Konventionen beugen, an die sich der Vater klammert, während sich die Mutter der Homosexualität ihres Sohnes noch mit reichlich Spott verweigern würde.

Es gibt in den Romanen keine Zeitleiste, an die sich Édouard Louis hält, wo wie sich Erinnerungen einer chronologischen Abfolge verweigern, um stattdessen in gedanklichen und assoziativen Zeitsprüngen zu mäandern. Er collagiert die biografischen Episoden und deren Folgeerscheinungen mit politischen Kommentaren, soziologischen Anmerkungen und literarischen Zitaten. Für seine Stückfassung hat Moritz Franz Beichl Passagen aus beiden Texten nicht nur in ihrer Reihenfolge neu collagiert. Anders als in den Prosaskizzen mischen sich Jenny Weichert und Marco Matthes immer wieder gemeinsam in mögliche Lesarten ihrer Lebens- und Familiengeschichte ein, mit denen Moritz Schulze sie herausfordert. Sie argumentieren auch mit Texten, die der Autor ursprünglich dem anderen Elternteil zugedacht hatte und finden in der Inszenierung von Moritz Franz Beichl zu einer Form der gemeinsamen Introspektion.

Dass dabei auch Vieles unausgesprochen bleibt und nicht mit Worten haftbar gemacht werden kann, signalisiert der Bühnenraum, für den Robin Melzer diese Rückzugsorte hinter den Vorhängen aus Perlenschnüren geschaffen hat. Auch die Momente des Stillschweigens verbindet das Schauspielteam mit seinen Figuren, wenn es in sie hineinhört, in ihren schmerzhaften Aufruhr und all das Elend, das sich in der Erinnerung ständig wiederholt. Die Verständigung darüber hat zwar befreiende Wirkung, mit den Fragmenten der Zärtlichkeit, die jetzt vorübergehend Halt geben. Aber zu einem versöhnlichen Miteinander wird es nicht kommen. 

Die Familiengeschichte »Fragmente der Zärtlichkeit« nach Édouard Louis »Die Freiheit einer Frau« und »Wer hat meinen Vater umgebracht?« in der Inszenierung von Moritz Franz Beichl hatte am 8. April 2023 Premiere im Deutschen Theater Göttingen. Weitere Vorstellungen stehen am 16. und 29. April sowie am 13. und 21. Mai auf dem Spielplan.

Hören Sie ein Gespräch von Tina Fibiger mit dem Regisseur aus der Reihe »Theatermagazin Szenenwechsel«

Tina Fibiger

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