Clemm berichtet in „AktenEinsicht“ aus ihren Erfahrungen als Strafverteidigerin und Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistischer Gewalt. In sachlicher Erzählform sind acht Fälle zu lesen, die in dieser Form nicht passiert sind, aber echten Fällen nachempfunden sind. In der Vorbemerkung des Buches erklärt Clemm: „Es geht mir im Kern nicht um den konkreten Einzelfall. Es geht mir darum, strukturelle Probleme dieser Gesellschaft anhand von Geschichten aufzuzeigen, die ähnlich andauernd passieren.“ Diese Erklärung bestätigt sich bei ihrer Lesung. Direkt zu Beginn stellt sie fest, dass eigentliche alle von der Verbreitung der Gewalt gegen Frauen wissen – und doch würde so wenig dagegen unternommen, so wenig davon berichtet, so wenig darüber gesprochen.
Nachdem Clemm an diesem Abend aus der ersten Geschichte von „Claudia S.“ gelesen hat, fragt Margarete Stokowski nach den Warnzeichen, die Frauen zeigen könnten, dass ihr Mann ein potenzieller Gewalttäter sein könnte. Kontrolle, Angriffe auf das Selbstbewusstsein, Manipulation und Eifersucht würden zwar vorkommen, doch letztlich gäbe es Warnzeichen nicht immer, so Clemm: „Es sind Strukturen, in die alle sehr leicht reinrutschen können!“ Auch die Spirale, die auf das „erste Mal“ – die erste Gewalttat – folgt, ist eine Situation, in der viele Frauen gefangen sein können. Nach dem „ersten Mal“ folge meist das reumütige Entschuldigen und die Erklärungen, denen weitere Gewalttaten folgen und irgendwann sei es kaum noch möglich, anderen davon zu erzählen.
„Claudia S.“ in der Geschichte zeigt den Gewalttäter an, doch mehr ausversehen, denn eigentlich wollte sie das gar nicht so direkt. Dass Betroffene den Täter nicht anzeigen wollen, käme immer wieder vor. „Die allermeisten wollen vor allem, dass es aufhört.“ Es ginge ihnen um Sicherheit und um Anerkennung für das, was passiert ist. Auch in besser gestellten Milieus käme es immer wieder vor, dass Taten nicht zur Anzeige gebracht werden, bemerkt Stokowski. Dies hinge laut Clemm damit zusammen, dass das Thema nach wie vor sozial sehr schwierig sei. „Obwohl wir alle wissen, wie häufig sowas vorkommt …“, sei die Diskussion darum problematisch: Opfer können selten reden und über die Täter*Innen redet auch niemand.
Das Thema ist stets aktuell – im Lockdown haben sich die Zahlen nochmals drastisch erhöht. Clemm habe dies nicht anders erwartet, sie sei allerdings überrascht gewesen, dass das Problem allseits klar gewesen sei. Deutschland sei sehr „fantasielos“ damit umgegangen – in Frankreich seien beispielsweise in Supermärkten Beratungsstellen aufgestellt worden – hierzulande fehlten solche niedrigschwelligen Angebote. Stokowski fragt, welche Tipps zum besseren Umgang Clemm für einen möglichen zweiten Lockdown habe. Einige Ideen seien laut Clemm Telefonnummern auf Kassenzetteln zu drucken, niedrigschwellige Angebote, Außenkontakte ermöglichen und versuchen, Kontakte zu Nachbar*Innen und Familienmitglieder*Innen zu halten.
Der zweite und der dritte Fall, aus denen Clemm an diesem Abend liest, thematisieren rechte Positionen in der deutschen Justiz. Als Stokowski fragt, wie sie mit dem Zusammenstoß mit Richter*Innen aus dem rechten Spektrum umgehe, antwortet Clemm, dass sie sich als Juristin darüber ärgere und verweist darauf, dass bereits die juristische Ausbildung stark konservativ und häufig rechts geprägt sei. Und als Stokowski fragt, woran es läge, dass der Zusammenhang zwischen Gewalt gegen Frauen und Rechtsextremismus häufig nicht beachtet würde, antwortet Clemm: „um es platt zu sagen, weil wir im Patriarchat sind.“ Antifeminismus sei im rechten Spektrum häufig Teil der Gesinnung. Zudem schreibe sich das linke Spektrum das Thema Gewalt gegen Frauen selten auf die Fahnen.
In einigen Geschichten wirke es, als seien die Frauen „nicht komplett zerstört“, sagt Stokowski und deutet darauf hin, dass es im Buch auch darum geht, dass manche Frauen nach überlebten Gewalterfahrungen wieder zur Selbstbestimmung zurückfinden. Der Beruf, den Christina Clemm ausübt ist sicher ebenso anstrengend, wie er bedeutend ist. Stokowski fragt deshalb, wie es Clemm in ihrem Beruf ergehe. Es handele sich um einen wunderbaren Beruf, sagt Clemm, und auch, wenn das kaum vorstellbar sei, so würde in ihrem Büro sehr viel gelacht. Manchmal würde sie ehemalige Klient*Innen wieder treffen und dann sei die Freude über den Austausch sehr groß. „Es ist Alltag, es ist unter uns“, erklärt Clemm und weiß dennoch, dass es möglich ist, Spaß am Leben zu haben.
„AktenEinsicht – Geschichten von Frauen und Gewalt“ sei „schwer“ zu lesen, sagt Stokowski – nicht etwa, weil es sperrig geschrieben sei, sondern, weil es schwerfällt, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Dennoch: Es sei wichtig, sich mit dem Thema zu befassen. „Lest dieses Buch! Studiert Jura!“ – gibt Stokowski den Göttinger*Innen zum Abschluss als Aufforderung mit, denn Nachwuchs in diesem Bereich sei notwendig.
Christina Klemm: AktenEinsicht - Geschichten von Frauen und Gewalt. Kunstmann Verlag, 2020 |