Es wird viel geredet, wenn es um Sterbehilfe geht, um die palliative Sterbebegleitung oder wenn für die Freitodbegleitung plädiert wird. In Podiumsdebatten, Vorträgen und Expertisen ringen die Parteien um moralische, juristische, medizinische und ethische Positionen. Nur macht das den Einzelfall nicht weniger schmerzhaft und verzweifelt, auch wie dabei das individuelle Belastungsvermögen herausgefordert wird. Die Herausforderung spiegelt sich bereits im Titel des Szenarios von Wenzel Winzer, »Wir müssen über das Sterben reden«, der Argumente, Ansichten Ängste und Vorbehalte auf der dt.2-Bühne in Momentaufnahmen kollidieren lässt.
Befragt wird der Entscheidungsprozess einer jungen Frau, die den tödlichen Verlauf ihrer Krebserkrankung nicht mit noch mehr Chemotherapie verlängern will. Expertenmeinungen werden abgerufen, Stimmen von Betroffenen und Angehörigen, wenn um eine selbstbestimmte Entscheidung über das Weiterleben und das Frühersterben gerungen wird. Dazu gehört der Wutanfall, ständig auf andere angewiesen zu sein genauso wie der Spott, dass wohl irgendetwas total schiefgelaufen sein muss, auch das Ablästern über therapeutisch gemeinte Fürsorglichkeiten, die keine tröstende Wirkung haben. Das bürokratische Prozedere vermag Ironie Reserven mobilisieren. Und mit Blick auf den alarmierenden Pflegenotstand lässt sich in einer der szenischen Momentaufnahmen auch wunderbar polemisieren.
Mit praktikabler Sterbehilfe könnte eine alternde Gesellschaft ja nicht nur den staatlichen Betreuungsapparat entlasten, sondern auch die Krankenkassen. Doch Wenzel Winzer hat aus den Gesprächen bei seinen Recherchen zum Thema auch die Gedanken der 88jährigen Witwe verdichtet, die sich trotz ihrer fürsorglichen Familie nur noch einsam fühlt. Er lässt die MS-Patientin zu Wort kommen, die auf der Palliativstation täglich ein paar musikalische Momente mit ihren Erinnerungen am Flügel genießt, während der demenzkranke Akademiker seine Familie nur noch überfordert. Auch er verstört die Pro-und-Contra-Debatte um selbstbestimmtes Leben und Sterben, so wie die hilflose Chronistin, die immer noch spürt, wann die Pflegkräfte ihre stinkenden Extremente besonders widerwillig beseitigen und sich mit ihrem wütenden Ausbruch jeder Anteilnahme verweigert.
Bitte keine Befangenheit, wenn es um das Thema Tod und Sterben geht. Auch dafür plädieren die Stimmen, die Wenzel Winzer für sein Szenario collagiert hat. Marco Matthes, Volker Muthmann, Katharina Pittelkow und Gaja Vogel lassen sie argumentieren und kommentieren, aber auch provokant lästern, witzeln und provozieren. Sie sabotieren so auch das Aufgebot an Verdrängungsvokabular, das ständig lauert. Todesängste und Panikattacken wollen genauso unverblümt und vielleicht sogar erleichternd und befreiend ausgesprochen werden, wie der Entschluss, sich jetzt mit einem Medikamentencocktail von unerträglichen Schmerzen zu verabschieden, von der Aussicht auf ein gebrechliches Alter oder von einem gelebten Leben, das sich erschöpft hat.
Mit einem Griff zur Perücke erkunden die vier Schauspieler:innen abwechselnd den Entscheidungsprozess der jungen Krebspatientin Sandal Spatz. In weißen Kitteln wiederholen sie dann mechanisch souverän die schlechten Nachrichten von Ärzten, empören sich über einen staatlich geduldete Mordassistenz und die desolate Sozialfürsorge und verteidigen das palliativmedizinische Credo. Sie erkunden auch alle Optionen für eine assistierte Sterbehilfe und eine selbstbestimmte Entscheidung. Ohne dass der Eindruck entsteht, es gäbe die eine richtige, praktikable Lösung. Auch in diesem Sinne versteht sich der Abend als Sammlung von Einzelstimmen, die nicht zu einem Konsens finden müssen. Sie verstehen sich als Gesprächsimpulse für die Zuschauer:innen, die mit der Frage konfrontiert werden, wie würde ich in so einer Situation reagieren wollen und handeln und welche Freiräume stehen mir dann zur Verfügung.
Bühnenbildnerin Linda Hofmann hat den Gesprächs- und Gedankenraum mit einem weißen Podest ausgestattet, das von Rissen durchzogen ist. Das sind auch die Stelen in unterschiedlicher Höhe, die an antike Gesteinsbrocken denken lassen. In ihnen können sich Röntgenaufnahmen spiegeln, sie dienen als Stütze und bilden auch Standpunkte für Stellungnahmen und Einsichten, die im Bühnenraum mit weiteren Stimmen und Gegenstimmen konfrontiert werden. Eine aufblühende Rose und wie sie ihre Blätter verliert, wird im Bühnenhintergrund eingeblendet, später eine Waldlichtung, die wie ein Stillleben in das Dickicht der Momentaufnahmen hineinwirken. Auch ein riesiges rotes Tuch senkt sich herab. Es verhüllt die Schauspieler:innen, die mit den Stoffbahnen ringen, wie mit einem Blutstrom, der die Worte dämpft und verschluckt, die ausgesprochen werden wollen und gehören, damit auch andere endlich darüber reden. Dass sie sich auch mit dem Gedanken an den Tod über ein selbstbestimmtes Leben und Sterben verständigen, leichter und offener und nicht erst, wenn es an der Zeit zu sein scheint.