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St. Johannis

Erfolg, Versagensängste, Versuchung und Erlösung

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»Der Freischütz« als Taschenoper
von Janine Müller, erschienen am 19. Februar 2024
Foto der Schlussszene von links nach rechts: Agathe (Stefanie Woelke), Ännchen (Johanna Neß), Max (Mathias Schlachter), Kaspar (Robin Frindt), ein Eremit (Olaf Tietz), Ottokar (Gerd Neumann), Kuno (Jürgen Orelly) | © Photo: Janine Müller

Samstag, 17. Februar 2024 nachmittags, reges Treiben auf dem Johanniskirchhof, Menschen strömen durch das Westportal in die Kirche St. Johannis, die übliche Ticketkontrolle – und dann ist doch einiges anders als sonst. Vogelgezwitscher ist zu hören, einige haben Jagdbekleidung an, Trachtenhüte auf, hier und da ist ein kleines Jagdhorn zu sehen, Jägermeister steht auf Tischen. Die Stühle sind im Kreis angeordnet, sodass sich in der Mitte nicht nur freie Fläche als Bühne findet, sondern Zuhörer:innen und Musiker:innen auch eine geschlossene Gemeinschaft bilden – zusammen mit den ebenfalls besetzten Plätzen auf der Empore rings herum.

In den Stuhlkreis integriert steht auch der Flügel, gespielt von Stadtkantor Bernd Eberhardt, der diese „Taschenoper“, wie er sie nennt (siehe Vorbericht), in kammermusikalischer Besetzung leitet. Die Ouvertüre gehört musikalisch ganz ihm, für eine Oper untypische Klavierklänge füllen die Kirche – die jedoch aufgrund seines virtuosen Spiels kein Orchester vermissen lassen. Die Ohren der Zuhörer:innen noch auf die Klavierklänge fokussiert, wandern die Augen zugleich zu einem Eremiten, gespielt von Kantoreimitglied Olaf Tietz, der majestätischen Schrittes in die Mitte des Kreises einzieht. 

Dabei trägt er den in der Oper unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Teufel, symbolisiert durch einen toten Tierschädel, der hoch oben an einem Stab über allem schwebt, und stellt ihn allsichtbar am Rand des Kreises ab. Während der Ouvertüre stellt der Eremit die Charaktere mit großem schauspielerischem Talent gestisch vor, spielt mit ihnen, deutet ihr Wesen an. Im weiteren Verlauf der Oper zeigt er immer Präsenz, bewegt sich mit seinem faszinierenden Charisma durch den Raum und sorgt mit seiner durchdringenden Ausstrahlung für Gänsehaut.

Nach der Ouvertüre stellt Alexander Cern als Sprecher die Charaktere namentlich und auch in ihren Beziehungen zueinander vor und führt humorvoll in die Handlung ein. Carl Maria von Weber (1786–1826) komponierte eine romantische Oper, deren Geschichte nach dem 30-jährigen Krieg spielt. Mit abwechselnd volkstümlich-tänzerischen und romantisch-dramatischen Klängen handelt sie von Liebe, Erfolg und Versagensängsten und ist damit allzeit aktuell. Durch den Verzicht auf Dialoge tritt Cern immer mal wieder auf und führt die Handlung voran. Nicht nur als Sprecher, auch und besonders als Regisseur leistet Cern Hervorragendes und hat die Musiker:innen mit beeindruckendem Ergebnis auf ihre Rollen vorbereitet.

Die Kantorei sitzt unter den Zuhörer:innen und nimmt diese so mit hinein in das Geschehen und sorgt für einen stimmgewaltigen Surround-Sound. Einzelne Kantoreimitglieder lösen sich im Verlauf aus dem Publikum heraus und sind solistisch und schauspielerisch im Einsatz, was für Spannung und Überraschungen sorgt.

Die Solorolle Max ist mit Mathias Schlachter besetzt, der erst am Morgen der Aufführung von diesem Rollenwechsel erfährt, denn er war ursprünglich als Fürst Ottokar geplant. Durch glückliche Fügung im Unglück hatte er die Rolle des Max schon in der Generalprobe übernommen, sonst wäre ihm dieser extrem kurzfristige Wechsel in die Hauptrolle nicht möglich gewesen. Von der kurzfristigen Einstudierung ist jedoch nichts zu spüren, mit seinem facettenreichen Tenor findet er sich sehr gut in seine Rolle als erfolgreichen Schützen Max ein, den beim Jagen zunehmend die Treffsicherheit verlässt. Für Ottokar, der seinen Auftritt erst am Ende hat, springt Kantoreimitglied Gerd Neumann ein. Auch er hat sich seinen Part innerhalb kürzester Zeit bravourös angeeignet.

Max Gegenspieler Kaspar, ein Jagdkollege, übernimmt Bariton Robin Frindt. Mit seiner kräftigen, voluminösen Stimme ist die Rolle des Kaspar mit ihm perfekt besetzt. Mit schauspielerischem Talent präsentiert er List und Heimtücke und begeistert die Zuhörer:innen mit der Verkörperung der dunklen Seite, die Max dazu bringt, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen.

Max Liebe Agathe, die einst Kaspar abgewiesen hat, wird von Stefanie Woelke gespielt und gesungen. Zusammen mit ihrer Freundin und entfernten Cousine Ännchen (Johanna Neß) spürt Agathe während der Hochzeitsvorbereitungen, dass mit Max etwas nicht stimmt. Sowohl Stefanie Woelke als auch Johanna Neß strahlen mit ihren klaren, hellen Sopranstimmen.

Bass Jürgen Orelly übernimmt die Rolle des Erbförsters Kuno und Vater von Agathe. Er steht der Hochzeit zwischen Max und Agathe an sich nicht im Weg, jedoch muss Max nach altem Brauch ein Freischießen gewinnen. Jürgen Orelly findet sich gut in die Rolle des traditionsbewussten und sturen Kuno ein und kann dies auch stimmlich sehr gut transportieren.

Die Solist:innen zeigen ein gelungenes Zusammenspiel in authentisch gespielten Rollen. Zusammen mit der Kantorei sorgen sie durch ihre hervorragende Performance immer wieder für Szenenapplaus.

In der Pause ist Zeit für Gespräche zwischen Kantoreimitgliedern, Zuhörer:innen und Solist:innen – die ganze Raumatmosphäre lädt geradezu dazu ein. Ein Zuhörer berichtet, dass er eigentlich gar nicht so gern in die Oper geht, ihn die Podiumsdiskussion „Der Pakt mit dem Bösen“ im Vorfeld aber dazu animiert hat, sich den für ihn bisher unbekannten Freischütz einmal anzuhören – die Form der Taschenoper ist ja extra gemacht für der Oper weniger zugeneigte Konzertbesucher:innen. Simone Weill und Detlef Weill-Radtke waren von den „Fidelio“-Aufführungen, die 2019 und 2023 in Johannis stattfanden, so begeistert, dass sie sich die neue Taschenoper nicht entgehen lassen wollten, und lassen auch heute ihrer Begeisterung freien Lauf. Simone beschreibt diese gelungene Inszenierung mit „Gänsehaut“, und betont auch die Virtuosität des Pianisten. Detlef fühlt sich durch die Darbietung und die mitreißende Musik sehr gut in die Geschichte hineinversetzt.

„Der Pakt mit dem Bösen“ – das Thema ist in der Kirche besser aufgehoben als man zunächst annehmen mag. Nach der Pause nimmt das Unheil seinen Lauf. Max hat sich wegen seiner Treffunsicherheit von Kaspar dazu hinreißen lassen, für das Freischießen Freikugeln zu gießen, die ihr Ziel immer treffen. Kaspar hat ihm jedoch verschwiegen, dass der Teufel dafür seine Seele verlangt; Kaspar selbst erhofft sich, durch diesen Pakt seine eigene Seele vom Teufel freizukaufen. Beim Freischießen scheint Max seine Treffsicherheit zurückgewonnen zu haben, beim entscheidenden Schuss jedoch fallen Agathe und auch Kaspar wie tot zu Boden. In der Schlussszene entpuppt der Eremit, der während der gesamten Aufführung immer im Hintergrund präsent war, seine tragende Rolle als Erlöser. Er hat die Teufelskugel umgelenkt, sodass niemand stirbt. Denn entgegen üblichen Aufführungen erlöst der Eremit am Ende auch Kaspar – und verlässt die Bühne mit dem symbolischen Teufel in der Hand.

Ein Thema, das nachdenklich stimmt. Besucher Fritz Schöndube betrachtet die Oper als Gesamtwerk, sieht Max und Kaspar als zwei Seiten des gleichen Menschen, die beide um das Wohl des Menschen kämpfen. Der Mensch befindet sich permanent in einem psychologischen Zwiespalt durch den Wunsch nach Erfolg einerseits, Versagensängsten andererseits, darüber steht die Moral. Aus Versagensängsten lässt sich der Mensch auf das Böse ein und fällt am Ende selbst rein. Die Musik, so Schöndube, unterstützt diese Dramaturgie und öffnet eine weitere Verstehensebene. Der Ort der Kirche ist für ihn genau richtig für diese Thematik. Gegen die allgegenwärtigen Ängste des Menschen setzt er auf die christliche Botschaft: „Fürchte dich nicht.“ Und so stellt das Heraustragen des symbolischen Teufels durch den Eremiten ein Finale, das an diesem Ort kaum besser hätte gewählt werden können.

Die Resonanz dieser überaus gelungenen Aufführung ist lange und laut hörbar. Das Zusammenwirken von aktuellem Thema, musikalischer Brillanz, herausragender Inszenierung mit schauspielerischer Glanzleistung und auch der Gestaltung des Schauplatzes in der Johanniskirche mit verschiedenen Lichtszenen lässt so manchen auf eine Fortführung der Reihe Taschenoper hoffen.

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Janine Müller

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